Edward Snwoden hat erneut sein Leben riskiert, um auf die Überwachung von Bürgern durch ihre Regierung aufmerksam zu machen, diesmal allerdings in Russland.
Redaktion
In einer Fernsehsendung fragte er den russischen Präsidenten Wladimir Putin, ob die russische Regierung massenweise Kommunikationsdaten ihrer Bürger abfange, analysiere oder speichere. Es schien, als habe er damit Putin eine Steilvorlage für eine Propagandaantwort geliefert, die auch, wie zu erwarten war, natürlich »Nein, Russland würde so etwas niemals tun« lautete. Aber jetzt enthüllte Snowden, er habe diese Frage absichtlich gestellt, um Putin öffentlich der offensichtlichen Lüge zu überführen.
Auf ähnliche Weise hatte Geheimdienstchef James Clapper unverhohlen gelogen, als es um die Überwachung und Ausspähung in den USA ging. Snowden geht fest davon aus, dass sich Whistleblower und Journalisten auf der ganzen Welt, einschließlich Russlands, nun daran machen werden, Putins Lüge zu entlarven. Dies wird die Debatte in der Öffentlichkeit weltweit verstärken und nicht allein auf die amerikanische Überwachungspolitik beschränken, sondern die Spionagetätigkeiten aller größeren Mächte umfassen. Putin ist nicht gerade bekannt dafür, Kritik verständnisvoll aufzunehmen und reagiert scharf, wenn er sich über den Tisch gezogen fühlt. Da sich Snowden immer noch in Russland aufhält, hat er erneut sein Leben aufs Spiel gesetzt, um das Recht auf Privatsphäre und auf Datenschutz zu verteidigen.
Viele waren vielleicht von Edward Snowdens Entscheidung, in einer russischen Fernsehsendung aufzutreten und den russischen Präsidenten Wladimir Putin zu fragen, ob Russland ähnlich wie die NSA, deren Überwachungsprogramme ja von Snowden erst enthüllt worden waren, seine Bürger massenweise ausspähen würde, völlig überrascht. Offenbar spielt sein Auftritt Putins Propagandabemühungen in die Hände, denn Putin ergriff natürlich diese Gelegenheit, die ihm praktisch auf dem Silbertablett präsentiert wurde, um zu erklären, dass Russland so etwas natürlich niemals tun würde. Derartige Massenüberwachungen oder massenweise Ausspähungen fänden in Russland nicht statt. Aber Putins Antwort war eine Lüge. Viele Kritiker und Gegner Snowdens nahmen seinen Fernsehauftritt zum Anlass, ihm vorzuwerfen, dies sei ein Beispiel dafür, dass er sich von der russischen Propagandamaschine einspannen lasse – und auch viele seiner Freunde oder Befürworter fragten sich, ob er möglicherweise dazu gezwungen worden sei, um seine befristete Asylzusage nicht zu gefährden. Andere wieder dachten, er sei einfach nur naiv. Einige Unterstützer Snowdens allerdings beharrten darauf, man solle ihn erst einmal zu Wort kommen lassen und sehen, ob sich nicht ein tiefergehendes Motiv hinter seine Frage aufzeigen lasse.
Und eine Antwort Snowdens ließ auch nicht lange auf sich warten. In einem Kommentar in der englischen Tageszeitung The Guardian erklärte er, Putin habe gelogen und müsse nun beim Wort genommen werden. Mit seiner Frage habe er den russischen Präsidenten auf ähnliche Weise bloßstellen wollen, wie Senator Ron Wyden mit seiner nun berühmten Frage an NSA-Chef Clapper.
Wyden hatte Clapper im Rahmen einer Anhörung direkt gefragt: »Sammelt die NSA überhaupt irgendwelche Arten von Daten von Millionen Amerikanern?« Worauf Clapper antwortete: »Nein, Sir«. Und diese offenkundige, dreiste Lüge war einer der Faktoren, die Snowden dazu brachten, letztlich die Unterlagen zu veröffentlichen, die er gesammelt hatte. Im Guradian schrieb Snowden weiter:
»Am Donnerstag fragte ich in einer live übertragenen Fernsehsendung, ob Russland Massenüberwachungsmaßnahmen durchführe. Ich stellte dem russischen Präsidenten Wladimir Putin eine Frage, die von keinem führenden Politiker, der ein modernes, aggressives Überwachungsprogramm betreibt, glaubwürdig verneint werden kann: ›Fängt Ihr Land Millionen Kommunikationen von Einzelpersonen ab und analysiert und speichert sie?‹
Dann hakte ich weiter nach und fragte, ob ein solches Massenüberwachungsprogramm, auch wenn es effektiv funktionierte und in rein rechtlicher Hinsicht legal wäre, überhaupt jemals moralisch gerechtfertigt werden könnte?
Diese Frage war eine direkte Anspielung auf den denkwürdigen Wortwechsel im amerikanischen Senats-Geheimdienstausschuss zwischen Senator Ron Wyden und dem Chef der Geheimdienste (»Director of National Intelligence«) James Clapper, in dem es um die Frage ging, ob die NSA Daten von Millionen Amerikanern sammele. Clapper musste sich nun entscheiden, ob er wahrheitsgemäß, oder lieber mit einer Ausflucht antworten wolle (ein direkter Vergleich zwischen Wydens und meiner Frage isthier möglich).
Clappers Lüge – gegenüber dem Senat und der amerikanischen Öffentlichkeit – war ein wesentlicher Antrieb für meine Entscheidung, an die Öffentlichkeit zu gehen und ist ein historisches Beispiel dafür, wie wichtig es ist, dass Regierungen über ihr Handeln Rechenschaft ablegen müssen und zur Verantwortung gezogen werden können.«
Später geht er darauf ein, warum er überzeugt sei, dass Putin mit seiner Antwort gelogen habe, und dass er nun erwarte, dass diese Lüge wie zuvor in den USA nun auch in Russland nicht hingenommen, sondern ihr vielmehr nachgegangen und sie offengelegt werde:
»In seiner Antwort verneinte Putin den ersten Teil der Frage und wich der zweiten aus. In seiner verneinenden Antwort lassen sich zahlreiche Unstimmigkeiten feststellen – mit denen wir uns bald auseinandersetzen werden – aber es war nicht die verdächtig knappe Antwort des Präsidenten, die von vielen ›Experten‹ kritisiert wurde. Man stieß sich daran, dass ich überhaupt eine Frage gestellt hatte.
Ich war überrascht, dass viele Menschen, die miterlebt hatten, wie ich mein Leben riskierte, um die Überwachungs- und Spionageprogramme meines eigenen Landes aufzudecken, nicht glauben konnten, dass ich auch die Überwachungspraktiken Russlands, eines Landes, dem gegenüber ich keinerlei Verpflichtungen eingegangen bin, kritisieren würde, ohne versteckte Absichten zu verfolgen. Ich bedauere, wenn meine Frage zu Missverständnissen Anlass gegeben haben könnte, und dies vielleicht dazu führte, dass vielen der Kern der Frage – und Putins ausweichender Antwort – entging und es daher zu wilden und falschen Spekulationen zu den Motiven meiner Frage gekommen ist.
Der investigative Journalist Andrej Soldatow, vielleicht der einzige bekannte Kritiker des russischen Überwachungsapparats (der mich im vergangenen Jahr mehrfach angriff), erklärte, meine Frage sei ›für Russland außerordentlich wichtig‹ gewesen. Sie könnte, so sagte er, ›das stillschweigende Verbot einer öffentlichen Diskussion über die Abhörmaßnahmen des Staates‹ aushebeln.«
Snowden verwies auch auf die bemerkenswerte Ähnlichkeit der Antworten Putins und Obamas, als sie nach den gegen die eigene Bevölkerung gerichteten Überwachungsprogrammen gefragt wurden, und meinte, er erwarte nun, dass die russischen Medien endlich damit begönnen, Putin wegen seiner Äußerungen beim Wort zu nehmen:
»Bei der Ausstrahlung dieser Sendung im kommenden Jahr wird es hoffentlich mehr Fragen zu den Überwachungsprogrammen und andere umstrittene politische Fragen geben. Aber wir müssen damit nicht solange warten. Journalisten könnten z.B. nachfragen, und eine Klarstellung fordern, wie viele Kommunikationen von Einzelpersonen nun tatsächlich abgehört, analysiert und gespeichert werden, wenn die bereits arbeitenden Systeme dies zumindest auf technischer Ebene leisten müssen, um zu ihre Funktion zu erfüllen. Sie könnten auch fragen, ob die Berichte der hinter den sozialen Netzwerken stehenden Unternehmen hinsichtlich der umfassenden Datensammelforderungen seitens der russischen Regierung der Wahrheit entsprechen.«
Und zum Schluss weist er daraufhin, dass seine Einstellungen weiterhin völlig gleichgeblieben sind:
»Ich habe nicht öffentlich auf die Überwachungspraktiken der NSA aufmerksam gemacht, weil ich der Ansicht war, die USA hätten sich als einzige schuldig gemacht, sondern weil ich der Überzeugung war, dass das Massenabhören von Menschen, die sich nichts hatten zuschulden kommen lassen - der Aufbau gigantischer, vom Staat betriebener Überwachungszeitmaschinen, die die Zeit in Bezug auf die intimsten Details unseres Lebens zurückdrehen können – überall und für alle Menschen eine Bedrohung darstellt, unabhängig davon, wer diese Überwachungssysteme steuert.
Im letzten Jahr habe ich mein Leben und meine Freiheit riskiert und auch meine Familie erheblichen Gefahren ausgesetzt, um dazu beizutragen, eine weltweite Debatte anzustoßen, die, wie selbst Obama einräumte, ›unser Land stärken wird‹. Ich stehe heute genauso zu meinen Prinzipien wie damals vor einem Jahr.
Ich verstehe die Befürchtungen einiger Kritiker, aber es gibt eine naheliegendere Erklärung für meine Frage als das geheime Bestreben, die Kritik an einer bestimmten Politik, für die ich ein angenehmes Leben aufgegeben habe, zu verteidigen: Wenn wir den Wahrheitsgehalt der Behauptungen von Regierungsvertretern überprüfen wollen, müssen wir ihnen zunächst die Gelegenheit geben, derartige Behauptungen aufzustellen.«
Snowden hat wieder einmal eine Strategie eingeschlagen, mit der er vielen um einige Schritte voraus ist. Vielleicht war Putins Antwort ja reine Propaganda, aber offenbar verfolgte Snowden mit seiner Frage eine umfassendere Strategie, die darüber hinaus noch mit allen Positionen übereinstimmt, die Snowden seit Beginn vertreten hat.
Offen gesagt wurde diese Möglichkeit zwar in Bezug auf seine Frage erwogen, aber viele Leute hielten es für sehr unwahrscheinlich, dass Snowden gerade seinen gegenwärtigen Gastgeber angreifen würde (der allerdings nur sein Gastgeber wurde, weil die USA seinen Pass für ungültig erklärt hatten). Putin ist nicht gerade dafür bekannt, mit Kritikern sanft umzugehen, und es hätte wohl niemanden überrascht, wenn Snowden sich aus der Frage der russischen Spionagesysteme herausgehalten hätte, und sei es nur aus reiner Vorsicht.
Snowden hatte allerdings von Anfang an keinen Zweifel daran gelassen, dass es ihm bei seinen Enthüllungen nicht um seine Person gehe. Und dass er es hinnehme, wenn die ganze Sache für ihn kein gutes Ende nähme. Er machte deutlich, dass er bereit sei, sich zu opfern, um diese Diskussion loszutreten – und nachdem er das schon einmal gemacht hatte, beschloss er nun, es auch unter anderen Umständen zu versuchen. Wenn man bedenkt, was Snowden mit den Enthüllungen der NSA-Dokumente auf sich genommen hat, zeigt er nun noch größeren Mut. Denn indem er Putins Äußerung als Lüge entlarvt, beweist er, dass sein Mut keine einmalige Angelegenheit war, sondern ein Grundprinzip seines Lebens ist, an dem er festhält.
Damit hat er sich wahrscheinlich neue einflussreiche Feinde gemacht – darunter auch einige, die ihm große Schwierigkeiten bereiten könnten. Aber er beweist noch einmal, warum ihm die Öffentlichkeit weltweit so große Dankbarkeit schuldet, wobei offen bleibt, ob wir diese Dankesschuld jemals abtragen können.